Corona – Eine Frage des Wissens

Nicht nur das Sars-CoV-2-Virus, auch die Diskursfetzen dazu vermehren sich exponentiell! Wir sprechen über Zahlen und anderes (Un)Wissen.

Nach langer Pause meldet sich die Diskurspresse mit einem extralangen Beitrag zurück. Nicht nur das Sars-CoV-2-Virus, auch die Diskursfetzen dazu vermehren sich exponentiell! Und suchen uns sogar im Traum heim…

Deswegen gab es besonders viel zu besprechen. Gemeinsam haben wir uns gefragt, wie die Diskurse um das Virus ein neues Licht auf Wissensformen werfen und welche Wissenschaften das Virus wie beleuchten. Außerdem stellen wir Euch hier eine Reihe von Quellen zusammen, die wir im Chaos der Berichterstattung und Kommentierung besonders spannend fanden. (Einfach auf die Titel im unten stehenden Text klicken.)

Wir sprechen über die Rolle von Zahlen und Modellierungen, wie zum Beispiel bei Harry Stevens, Why outbreaks like coronavirus spread exponentially and how to „flatten the curve“ , oder Thomas Pueyo, Coronavirus: Why you must act now.

Wir fragen uns, wie dieses zahlenbasierte Wissen und die Entscheidungen zusammenhängen, die daraus abgeleitet werden und sich darauf gründen wollen. Denn Expertentum kann keine richtigen Entscheidungen garantieren – und Politik verfolgt immer auch andere Interessen, wie der Philosoph Giorgio Agamben im Verdacht hat: sein Beitrag „The state of exception provoked by an unmotivated emergency“ führt uns dazu, wie ununterscheidbar berechtigte Vorsicht gegenüber der Politik des Ausnahmezustands von voll ausformulierter Verschwörungstheorie ist.

Die Ausbreitung von Sars-Cov-2 führt aber nicht nur zur Verunklarung der Unterscheidung zwischen Wissen und Unwissen; sie ist selbst erkenntnisbringend: Sie erzwingt die Auseinandersetzung mit denjenigen gesellschaftlichen (Klassen-)Strukturen, die sonst oft verdrängt bleiben, wie Sascha Lobo in seiner Kolumne Wider die Vernunftpanik argumentiert. Die Pandemie erfordert von uns, unter verschärften Umständen zu fragen, wie diese Gesellschaft außerhalb der Krise aufgebaut ist – und wie wir sie, wenn die Situation hinter uns liegt, verändern wollen. Margarete Stokowski sieht in der Pandemie ebenfalls eine Gelegenheit, eine moralische Neubewertung unserer Handlungsnormen vorzunehmen: Sie analysiert Selbstliebe in Zeiten des Coronavirus.

Verändern wird die Pandemie ohnehin alles, beschreibt der Philosoph Slavoj Zizek in seiner Antwort auf Agambens Kritik, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein und, fordert:   „Mehr Differenzierung, bitte!“ Er versucht, Wissen und Unwissen, berechtigte Kritik von Ideologie zu trennen. Und mit den Instrumenten der Philosophiegeschichte zu imaginieren, ob wir eine philosophische Revolution unseres Denkens und Handelns erleben werden.

Dass Ansteckung als Metapher ebenso gefährlich sein kann, wie als biologischer Vorgang, diskutiert die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse in Tolstoj und die Ansteckung . Wenn Kunst oder Denken als Ansteckung imaginiert werden, kann dies tödliche ideologische Folgen haben – und uns sogar davon abhalten, die biologische Realität viraler Ansteckung zu begreifen. Dabei ist die Rolle der Fiktion für unseren Umgang mit der Angst, die Ansteckung hervorruft, mindestens ambivalent, wie Johannes Franzen feststellt: Niemand ist immun gegen Bilder.

Nicht gesprochen haben wir aus Zeitgründen über die globalen Ausbreitung und deren Zusammenhang mit internationaler Politik, wie beispielsweise über die medizinische Versorgung im Iran und der besonderen Betroffenheit von Geflüchteten, die in Lagern oder an der türkisch-griechischen Grenze mit der Situation konfrontiert sind. Über Kommentare und Ergänzungen freuen wir uns daher sehr!

Bild: Die Weisheit (1842) – Quelle: http://www.tugenden.com/weisheit/

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