Der ewige Kreis

John Favreaus „The Lion King“ reproduziert nicht nur den Zeichentrick-Klassiker, sondern auch Shakespeares „Hamlet“ – und damit uralte Narrative.

The Lion King (John Favreau, 2019) ist in vieler Hinsicht eine Reproduktion. Es reproduziert haargenau die Einstellungen, Dialoge und Montage des Zeichentrick-Klassikers. Es feiert die perfekte Mimesis der Natur in der makellosen Animation der Natur und der Tiere, die sie bevölkern. Es ist außerdem eine erstaunlich präzise Reproduktion des Plots von William Shakespeares Tragödie Hamlet, Prince of Denmark. Die Kontinuitäten zwischen neuem Film und altem Stoff zeigen, wie sich kulturelle Narrative fortpflanzen – und wie feine Unterschiede zu deren Erschütterung führen können.

Naturschönheit und allzu Menschliches

Ins Auge fallen beim Sehen des neuen Lion King natürlich erstmal viele Unterschiede zwischen dem Klassiker und der Bearbeitung: Echte Tiere! Oder fast: Die animierten Landschaften und Tiergestalten sind, das muss man zugeben, atemberaubend realistisch. Die animierte Safari-Landschaft der „Pridelands“, in dem Löwenherrscher Mufasar regiert und zu Beginn des Films den Thronfolger Simba stolz präsentiert, ruft erst einmal Bewunderung für die Schönheit der Landschaft und den Reichtum der Natur hervor. Dazu erklingt der ikonische Song „Der ewige Kreis“ („Circle of Life“). Der Film zeigt in jedem Fall Potenzial, in Zeiten immer höheren Bewusstseins für den nicht mehr zu übersehenden Klimawandel einen emotional wirksamen Eindruck von der bewahrenswerten Schönheit des Planeten zu vermitteln, der ja vielleicht ohne Menschen viel schöner war.

Doch nachdem die lange Anfangssequenz vorbei ist, in der die kitschige Arche Noah-Idylle im Zentrum steht, beginnt die Geschichte des Films sich zu entwickeln, und damit hält das Menschliche, Allzumenschliche wieder Einzug. Allerdings nicht auf die schlechteste Weise: Diese digitale Reproduktion eines Zeichentrick-Klassikers ist zugleich auch eine weitere der unzähligen Bearbeitungen des klassischen Stoffs, den William Shakespeare seinerseits vor knapp über 400 Jahren zu seinem Hamlet, Prince of Denmark verarbeitete. Gegen diesen Quelltext gelesen, treten die Probleme, die der Zeichentrickfilm schon in sich barg, und die die digitale Kopie erst so richtig hervortreibt, am deutlichsten zutage.

Der feine Unterschied

Die Kernelemente sind vorhanden: Ein legitimer Herrscher, Mufasar, dem ein – angemessen räudiger – Bruder (Scar) die Krone und die Königin (Sarabi) neidet; ein rechtmäßiger Thronfolger, Simba, dem die Herrschaft vom Onkel entrissen wird und der sich, verspätet, zum Rachefeldzug aufrafft und seine rechtmäßige Erbschaft antritt. Sogar die trotteligen Höflinge Rosencrantz und Guildenstern kehren als Timon und Pumba zurück, wie auch Polonius, engster Berater des Königshauses, in Gestalt des komischen Vogels (im Wortsinn) Zazu. Die Szene, die (nach dem berühmten „To be or not to be“-Monolog des Prinzen) mit dem Stück am häufigsten assoziiert wird, ist in erstaunlicher Nähe zum Shakespeareschen Text vorhanden: Dem zweifelnden Simba erscheint im Exil, verhüllt durch eine Gewitterwolke, der Vater – kaum sichtbar, doch durch die Stimme klar erkennbar, ebenso wie dem jungen Hamlet der Geist seines Vaters in voller Rüstung erscheint, nur durch die Stimme identifizierbar. Der Geist Mufasars spricht einen Befehl aus, der der Eröffnungsszene Hamlets beinahe wortgetreu entnommen ist: „Remember!“

Beinahe. Nicht umsonst heißt es bei Shakespeare: „Remember me„, so dass der Befehl des Vaters die Aufmerksamkeit des Prinzen weiter obsessiv an seine Person bindet. Die Trauerarbeit soll nicht abgeschlossen werden, sondern in Racheenergie umgewandelt – der Imperativ erzielt bekanntlich gerade die umgekehrte Wirkung. Simba hingegen soll sich vor allem erinnern, wer er selbst ist: der rechtmäßige Erbe und vor allem: Verantwortliche für die Bewahrung des „Circle of Life“.

Gut gegen Böse?

In Shakespeares Hamlet sind Erscheinung und Befehl des Vaters Ursprung eines existenziellen Zweifels des Prinzen an der Wahrheit seiner Wahrnehmung und daher an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens. The Lion King eliminiert hingegen gezielt jeden Zweifel: das Drehbuch verändert die Dramaturgie dieser Handlungsversatzstücke derart, dass all das, was an der alten Erzählung – und zwar auch in Shakespeares Drama –  hochproblematisch ist, hier unhinterfragt seine Wirkung entfaltet.

So steht die Schuldigkeit des bösen Onkels am Mord am Vater von Anfang an außer Frage. Er ist der Ausgangspunkt für eine Schreckensherrschaft: Wo zuvor der „ewige Kreis“ aus Fressen und Gefressenwerden die Natur in einer fragilen, doch rechtmäßigen Balance hielt, nimmt sich nun ein heute Tyrann alles und mehr, als er verzehren kann. Wie die Allegorie einer mörderischen neoliberale Wachstumslogik, skandieren die Hyänen, die ihn unter selbstverständlich weiblicher Führung unterstützen: „A hyena’s belly is never full!“. Es sind nun die an der Macht, die den Hals nicht vollkriegen können – und schon bald ist die ökologische Katastrophe absehbar. Als Simba endlich zurückkehrt, um sich sein Erbe zurückzuholen und seiner Verantwortung als Hüter der natürlichen Ordnung nachzukommen, sind die letzten Gnus vertrieben und die Bäume verdorrt.

The Lion King lädt ein, einem Kampf des Guten gegen das Böse mit Spannnung zu folgen, die eigentlich hauptsächlich dadurch erzeugt wird, dass Simbas Rückkehr so lange auf sich warten lässt und damit die Zerstörung seines Reichs und des gemeinsamen Lebensraums unaufhaltsam fortschreitet. In Shakespeares Hamlet wird hingegen eine andere Art von Spannung gezielt aufgebaut: Der Imperativ der Stimme aus dem Jenseits, die zum Rächen und zum Erinnern auffordert, wird von Hamlet nicht für bare Münze genommen. Die Erscheinung scheint so wenig belastbar, dass die Handlung des Stücks vor allem von den Versuchen Hamlets angetrieben wird, sich der Schuld des Königs und der Wahrheit der väterlichen Erzählung zu versichern. Die Schuld des Onkels wird zwar durch ein Geständnis für den Zuschauer erwiesen, jedoch erst spät im Stück und vor Hamlet verborgen. Der Anteil der Königin, die vom alten zum neuen Herrscher weitergereicht worden ist, am Königsmord bleibt zumindest offen, und die opportunistische Teilnahme aller anderen Beteiligten an der angeblich so unrechtmäßigen Herrschaft von King Claudius stehen der obsessiven Wahrheitssuche des Prinzen Hamlet ständig entgegen. Die  Möglichkeit, dass der Prinz Opfer einer teuflischen Halluzination geworden ist, bleibt für ihn und den Zuschauer lange bestehen. Die Rache kommt denn am Ende auch zufällig: in einem inszenierten Fechtwettbewerb, dem eine komplizierte Intrige zugrunde liegt, welche zum Tod des Protagonisten führen soll, kommen schließlich alle zu Tode, in einem Gemetzel, welches der moralischen Legitimation der Rache vollkommen entbehrt.

Es schließt sich bei Shakespeare also keineswegs ein natürlicher Kreis, der nur kurzfristig verbrecherisch unterbrochen worden war: Am Ende des Stücks übernimmt der Norweger Fortinbras den dänischen Thron, die Aufgabe des überlebenden Horatio ist hingegen, die Erzählung vom Geschehenen zu reproduzieren.

Nur scheinbar eine runde Sache

The Lion King vermeidet diese Art der Unklarheit, indem es von die moralischen Fronten von vorneherein klärt, und die Unantastbarkeit des „Circle of Life“ sichert. Diese Reproduktion des alten Stoffs macht aber auch sichtbar, welche problematischen Narrative Hamlet selbst zur Folie hat.

Denn der ewige Kreis ist nur bei oberflächlicher und mit rühriger Popmusik unterlegter Betrachtung eine runde Sache. Er beschreibt eine Natur, in der die Einen durch die Anderen gewaltsam zu Tode kommen, um deren als Nahrungsgrundlage zu dienen; während diese eines natürlichen Todes sterben, um dann, zugegeben, nach Verwesung, als Grashalme wieder ersteren Nahrung zu liefern, so dass manche Plätze auf dem Kreis begehrenswerter scheinen als andere. Der „Circle of life“ bejaht die Verantwortung jedes Einzelnen für den Erhalt einer natürlichen Ordnung, in der jeder seinen Platz hat. Doch worin besteht dieser „Kreis“ auf den zweiten Blick? Die ungestörte Weitergabe des Erbes von Vater zu Sohn, man könnte auch sagen: die Sicherung der patriarchalen Akkumulation des symbolischen (Königtum) und ökonomischen (Gnus) Kapitals. Schon immer war die Natur, die Tierwelt, ein willkommener Bildspender für die Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse, täuscht sie doch die von menschlichen Interessen unberührte Ursprünglichkeit vor, die vom Menschen nicht modifiziert werden darf. Auch hier soll bitte reproduziert werden: von Vater zu Sohn, wohlgemerkt.

Die gewaltsame Umverteilung von unten nach oben und Sicherung des Machtanspruches verschleiert ihre gewaltsame Selbstsetzung durch die Erzählung des „ewigen Kreises“, garniert mit effizienten Ritualen, die im Lion King den Film wirkungsvoll umrahmen: Am Anfang wie am Ende des Films steht die Weihe des Erben zum rechtmäßigen Nachfolger durch die einzige spirituelle Instanz des Films, einem greisen Gibbon-Priester, der verstörenderweise als einziger Englisch mit einem anscheinend afrikanischen Akzent spricht und zwischendruch afrikanisch klingende Formeln murmelt (Afrika, Land der schönen Tiere und des primitiven Glaubens…?)

Die digital perfektionierte Oberfläche versiegelt gleichsam dieses unterschwellige Glaubensbekenntnis an die Weitergabe der Privilegien von Mann zu Mann unter dem Firnis einer geteilten und vor allem: natürlich aufgeteilten Welt. Die digitalen Figuren Mufasar und Simba sind im Erwachsenenzustand schwer voneinander zu unterscheiden; ebenso unterscheidet sich das nachfolgende Baby am Ende des Films vom jungen Simba nicht. Wo im Zeichentrick durch die antropomorphe Mimik den Tieren menschliche Charakterzüge, ja Persönlichkeiten verliehen wurden, sind nun nur noch die erstarrten Ikonen von Herrschaft (Löwe), Herrschaftspartner (Löwin), Bosheit (hässlicher Löwe), niedrigster Handlanger des totalitären Regimes (Hyäne) übrig geblieben. Eine Fabelwelt, deren Hyperrealismus ihre Stereotypie erst nach außen kehrt.

Von existenzialistischen Warzenschweinen

Hamlet, das soll hier keineswegs geleugnet werden, gehört zu den frühen Realisierungen dieser Narrative, die die Wohlfühl-Unterhaltung unserer Populärkultur immer noch prägen. Der ewige Zirkel von Leben und Tod ist in Hamlet, in dessen Entstehungszeit eine karnevaleske Subkultur die Komplementarität von Leben und Tod noch sehr viel ernster nimmt, natürlich auch präsent: Gegen Ende des Dramas sinniert der Prinz in der ikonischen Totengräber-Szene im Angesicht achtlos durcheinander liegender Gebeine über die Sinnlosigkeit sozialer Distinktionen im Leben, wo doch alle zur gleichen Erde zurückkehren und zu Wurmfutter werden. Doch ruft dies eher Zweifel an der bestehenden Ordnung hervor – und vor allem an der natürlichen Vorbestimmtheit der Rollenverteilung darin. Hamlets berühmte Melancholie und Lebensmüdigkeit wird zum Ende des Stücks immer vordergründiger, ein Ergebnis der vollkommenen Verunsicherung seines Weltbilds. Damit ist er überraschenderweise dem lustigen Paar aus The Lion King am nächsten: Timon und Pumba, die dem „circle of life“ die „long line of indifference“ entgegensetzen. Alle leben auf einer geraden Linie ihrem Untergang entgegen. Hauptsache also: Für sich selbst sorgen, nicht rechts und links schauen. „The readiness is all“, wird Hamlet kurz vor dem finalen Kampf feststellen. Wenn nichts vorgeschrieben ist, muss man zu allem bereit sein.

Ungute Kontinuitäten

In einem Punkt allerdings hat Shakespeares Hamlet dem animierten Lion King nicht einmal die Verunsicherung der geteilten großen Erzählung voraus. Weibliche Figuren sind bei Shakespeare oft und in Hamlet in besonderem Maße Stichwortgeberinnen für die tiefenpsychologische Ausbreitung des männlichen Protagonisten oder Angriffsfläche für dessen misogyne Projektionen. Auch in der heteronormierten Geschlechterordnung der „Pridelands“ stehen den weiblichen Tieren wenige Verhaltensmuster zur Verfügung: Mufasars Frau Sarabi zeichnet sich vor allem durch bedingungslose Loyalität zum Ehemann bis in den Tod aus, die autonomes weibliches Begehren negiert. Simbas love interest Nala greift auf die klassischste Funktion der weiblichen Protagonistin in den meisten Erzählungen unserer Kultur zurück: Um Hilfe bitten. Damit macht sie den männlichen Protagonisten „zum Mann“, und befähigt ihn erst zu seiner Machtergreifung. Absolute weibliche Macht, so lehrt uns auch der Lion King eindrücklich, ist abscheulich: die Hyänen-Herrscherin Shenzi duckt sich zwar vor der unabweisbaren moralischen Strahlkraft des Königs Mufasa, zögert aber nicht, den gescheiterten Tyrannen Scar am Ende des Films zu zerfleischen und sich einzuverleiben. „Frailty, thy name is woman“, befindet Hamlet schon am Anfang des Dramas, und wird seine eigene Mutter, Gertrud, wegen deren Teilhabe an der Macht des angeblichen Brudermörders Claudius brutal als nymphomane Furie beschimpfen.

Letzendlich zeigt The Lion King gerade durch die Vereinfachung und Glättung des Stoffs, dass auch die kanonisierten Kunstprodukte, die unsere Bühnen, Bücherregale und Gedanken bevölkern, die Grundlagen schaffen für eine ewige Reproduktion bestimmter Narrative. Doch der Vergleich zeigt auch: der Teufel steckt im Detail.

 

 

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