Im Elfenbeinturm

Dass Wissenschaftler weltfremd sind, ist ein Gemeinplatz. Ganze Disziplinen sind wegen „Nutzlosigkeit“ gefährdet. Oft sind Wissenschaftler*innen daran selbst schuld

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„Presentism“

Im Juli 2019 eröffnet Stephen Greenblatt, unangefochtener Rockstar der Shakespeare-Forschungsszene, die diesjährige Konferenz der European Shakespeare Research Association. Zum Einstieg erzählt er eine Anekdote. Als er auf eine Konferenz in Teheran eingeladen ist, wird die anschließende Diskussion im Plenum dafür genutzt, aktuelle politische Fragen über den Umweg der Shakespeare-Dramen zu verhandeln. Welches politische System ist das richtige? Gibt es Revolutionen mit Aussicht auf Erfolg? Wie durchbricht man den Zirkel politischer Gewalt, der jedem System innewohnt? Greenblatt berichtet, dass er im Anschluss an die Konferenz, zurück im sicheren Hafen der Harvard University, einen Beitrag für die New York Times über seinen Besuch schreibt. Dieser Beitrag löst eine Welle von Anfeindungen aus dem Iran aus: Er wird als Agent der CIA oder des Mossad verunglimpft, als Verräter beschimpft, den man mit gutem Willen zu Unrecht ins Land gelassen hat. Er fragt sich vor allem, welche Auswirkungen sein Bericht auf diejenigen hat, die ihn eingeladen und vor Ort mit ihm diskutiert haben.

Greenblatts Anekdote ist gelungene Selbstinszenierung, aber auch ehrlich gemeinte Selbstkritik. Vor allem ist sie aber deswegen für das Publikum aus 200 bis 300 Shakespeare-Forschern aus ganz Europa eine erhellende Erzählung: Shakespeare matters! Zumindest an Orten, an denen er zur Meinungsäußerung genutzt werden kann, die dort sonst streng reguliert wird.

Wie alle Geisteswissenschaftler sind Shakespeare-Forscher stets mit der Frage konfrontiert, was ihre Arbeit „heute noch“ legitimiert. Stephen Greenblatt ist immer ein gutes Argument – böse Zungen würden sagen: ein Feigenblatt – für die Sichtbarkeit der „Humanities. Immerhin ist sein neues Buch, The Tyrant. Shakespeare on Politics, Angela Merkels Sommerurlaubslektüre. Darin zeichnet er die psychologischen Züge einiger von Shakespeares „Tyrannen“ nach. Durch eine Analyse dramaturgischer Mechanismen fragt er danach, welche Schritte in die Tyrannei führen. Dabei ist kaum verborgen, dass er so via Shakespeare ein Psychogramm Donald Trumps zeichnet, und versucht zu erklären, welche Entwicklungen zu dessen Wahl geführt haben.

Aus literaturwissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Sicht mag das Buch methodisch und inhaltlich fragwürdig sein. Doch es ist auch der Versuch einer Annäherung an Shakespeare, die sich mit dem buzzword „Presentism“ beschreiben lässt. Was, wenn wir seine Texte stärker mit Blick auf unsere Gegenwart lesen würden?

Selbstsabotage

Die Frage klingt in mehrerlei und widersprüchlicher Hinsicht banal. Zum Einen könnte man behaupten: Viele Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung liegen in der Vergangenheit. Wie soll da ein Bezug zur Gegenwart möglich sein, ohne die Forschungsobjekte zu verformen, zu instrumentalisieren, eigentlich an ihnen vorbeizuforschen? Umgekehrt könnte man finden: Die eigene, gegenwärtige Forscherposition lässt sich gar nicht ausblenden. Jede Forschung ist gegenwartsbezogen, weil sie in der Gegenwart, unter deren Bedingungen und ideologisch-methodischen Neigungen stattfindet.

Unabhängig davon hält sich das Bild, dass Wissenschaftler sich in einem Elfenbeinturm aufhalten und sich damit zumindest räumlich von der sie umgebenden Gegenwart fernhalten. Nicht erst seit der Romantik ist Teil eines idealisierten Bildes vom Künstler oder Forscher, dass er sich weit oberhalb der übrigen Masse bewegt; in einer Einsamkeit, die auch dadurch gefördert wird, dass er sich nicht mehr allgemeinverständlich ausdrücken kann. Dass der fragliche Turm aus Elfenbein besteht, unterstreicht einen weiteren wichtigen Aspekt des Topos: Es handelt sich bei Wissenschaft offenbar um ein Luxusgut, das einen Einzelnen auf Kosten des Kollektivs sich über eben dieses Kollektiv erheben lässt.

Leider kann man nicht behaupten, dass viele oder ausreichend viele Wissenschaftler sich darum bemühen würden, dieses Bild zu widerlegen – im Gegenteil: sie schrauben kräftig daran mit. Zum Einen bietet das Wissenschaftler-Dasein einige schmeichelhafte Rollen an: verrückter Professor; schweigsamer Intellektueller; kritisch Hinterfragender (für Frauen sind die Rollenbilder noch im Aufbau, man tut sich immer noch schwer, wissenschaftliche Kompetenz mit der weiblichen Erscheinungsform in Einklang zu bringen.) Zum anderen wird die Rede vom Elfenbeinturm sozusagen naturgemäß von der steten Selbstkritik befördert, die die Grundlage guter Forschung ausmacht: die eigene Position und die eigenen Prämissen stets zu hinterfragen und nicht absolut zu setzen ist integraler Teil wissenschaftlicher Praxis. Der Hang zur Infragestellung der eigenen Berechtigung lässt sich auf den Beruf insgesamt ausdehnen: Warum tun wir eigentlich, was wir tun? Mit welcher Berechtigung?

Dass beispielsweise in den USA Sprach- und Literaturwissenschaftsdepartments mancherorts schon eingestampft worden sind und die übrigen sich stets von Budget-Streichungen bedroht sehen – ähnlich geht es sogenannten „Kleinen Fächern“ an deutschen Universitäten – trifft also von Seiten der Betroffenen zum Teil auf eine paradoxe Gegenwehr: Wir sind ein Luxus, den sich eine Demokratie leisten muss! Ein Hofnarr, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält und die blinden Flecke aufzeigt. Dass man sich damit nicht beliebt macht, ist klar. Dass das kein überzeugendes Argument gegen die Rede vom Elfenbeinturm ist leider auch.

Ex negativo

Eine Argumentation, die sich auf die produktiven Fähigkeiten, ja die Notwendigkeit der Wissenschaft und insbesondere der Geisteswissenschaften stützt, wäre wertvoller. Damit tun sich Geisteswissenschaftler oft schwer. Doch gerade eine große Fachkonferenz wie die ESRA lädt dazu ein, sich einmal zu fragen, inwiefern wissenschaftliche Tätigkeit vielleicht auch Schaden anrichten kann – ähnlich wie Greenblatts Artikel über den Besuch in Teheran. 

Das Thema der ESRA 2019 lautet: „Shakespeare and European Geographies. Centralities and Elsewhere“. Was sich aus dem charakteristisch vagen Thema ablesen lässt ist vor allem: es geht insgesamt irgendwie um Differenz. Jede Form von Andersartigkeit wird in den zahlreichen Panels, Seminaren und Vorträgen erfasst und diskutiert. Und damit verweist gerade die Offenheit des Titels auf das Potential der Shakespeareschen Dramen für Debatten, die aktueller nicht sein könnten. Panels und Seminare fragen danach, wie Othello heute auf der Bühne dargestellt werden sollte; ob für weibliche Figuren wie Gertrud und Ophelia aus Hamlet alternative Erzählungen denkbar sind; was tänzerische Adaptionen von Romeo und Julia über unser monogames, heteronormiertes Beziehungsmodell sagen können.

Insbesondere die diskursiven Katastrophen, die hierbei passieren, lassen keinen Zweifel daran: Was hier besprochen wird, ist wichtig.

Einige Beispiele: Die ethnisch korrekte Besetzung eines Othello mit einem farbigen Schauspieler wird ohne weitere Differenzierung verteidigt, jede Form von Besetzung durch einen weißen Schauspieler wird als Festhalten an rassistischer Ideologie verurteilt. Erzählungen von weiblichen Figuren, die das in den Stücken eingeschriebene Schicksal aus freien Stücken annehmen und sich scheinbar selbstermächtigt dafür entscheiden, werden als „strong women“ bezeichnet. Und schließlich: es wird diskutiert, wie man diese Einsichten an Studierende weitergeben kann.

Gerade die Vorstellung, dass solche verabsolutierende Lesarten an Studierende vermittelt werden, die diese weiterdenken und in ihr Umfeld tragen, macht deutlich, wie schädlich schlechte Wissenschaft sein kann. Im schlimmsten Fall leistet sie der Regulierung von künstlerischen Formen und Redeverboten Vorschub – dabei sollte doch kritische Wissenschaft als erstes darauf hinweisen, dass die Besetzung Othellos mit einem farbigen Schauspieler genauso gut rassistische Ausstellung eines Körpers sein kann, der dabei auf diese Eigenschaft reduziert wird. Den Unterschied zwischen der Bedeutungsbildung durch einen farbigen oder einen weißen Körper vor dem Hintergrund des jeweiligen Kontextes zu durchdenken, wäre hier eine sinnvollere Aufgabe. Ebenso wie danach zu fragen, was eine solche Besetzungspraxis von der rassistischen Praxis des Blackfacing[1] unterscheidet. Leider Fehlanzeige.

Ähnlich verhält es sich bei der Frage der weiblichen Figuren in Shakespeare: Die misogyne Grundhaltung Shakespeares und seiner Zeit und die ästhetischen Schwächen seiner Frauenfiguren wegzudiskutieren hilft genauso wenig, wie seine Werke deswegen aus den Hörsälen zu verbannen. Die Arbeit an den Inhalten von Erzählungen über Männer und Frauen ist wichtig, aber nicht ausreichend: vielmehr stellt sich die Frage, wie eine literarische Erzählung aussehen würde, die immanent weiblich – oder queer, oder geschlechtslos, etc. wäre; und keinen männlichen Blick beinhalten würde. Zu untersuchen, wie auf der Bühne cross-casting – die Besetzung von Frauen in Männerrollen – und re-gendering – der Wechsel einer Figur vom männlichen zum weiblichen Geschlecht – völlig unterschiedliche Bedeutungen produzieren, wäre ein guter Beitrag zu einer aktuell brisanten Frage: Auf der Bühne zeigt sich so, dass Gendergerechtigkeit differenzierter gedacht werden muss, als in der einfachen Umkehrung bestehender Unterdrückungsverhältnisse. Neue Bilder müssen geschaffen und erspielt werden, in dem Frauenkörper Männerrollen übernehmen und umgekehrt; und die Zuschauer die möglicherweise entstehende Irritation mal eben aushalten.

Neue Aufgaben

Inhalte und Kontexte, Prinzipien und Einzelfälle zu unterschieden, ist das, was die Wissenschaft in allgegenwärtige öffentliche Diskurse einbringen kann. Wenn ihr das misslingt, ist man noch ewig mit den Folgen konfrontiert. Die vollständige Subjektivierung von Wahrheiten beispielsweise ist das Ergebnis des totalen Missverständnisses dekonstruktivistischer Theorie, die doch eigentlich die Konstruktionsmechanismen „großer Erzählungen“ durchleuchten wollte – nicht aber ein neues „großes Narrativ“ der völligen Beliebigkeit von Meinungen schaffen. Ebenso scheinen mögliche gefährliche Produkte aktueller Forschung, dass bestimmte Rollenbesetzungen verboten werden, andere dagegen gefördert; oder nur noch Literatur von Autorinnen gelesen wird. Die gesellschaftliche Anwendung von kritischer Wissenschaft tendiert oft zur Verabsolutierung. Diese noch mitzudenken und zu verhindern, wäre Aufgabe der Geisteswissenschaft.

Damit die Wissenschaft dabei nicht zu einer rein affirmierenden, konservierenden Institution wird, ist entscheidend, dass sie sich als vergangenheits- und zukunftsorientiert zugleich begreift. Um nur eines der möglichen Beispiele aufzugreifen: Selbstverständlich muss der literarische Kanon, der großen Teils aus männlichen Autoren besteht, in Frage gestellt werden. Um das zu begründen, muss genau verstanden werden, welche Machtmechanismen greifen, wenn nur männliche Autoren weibliche Figuren erschreiben – anstatt diese Erzählungen von der Bildfläche zu verbannen und eine solche Einsicht so zu verunmöglichen. Zugleich, und darin liegt die Herausforderung, müssen in der Gegenwart neue Kanones geschaffen werden, die der bisherigen Favorisierung männlicher Autoren und ihrer Erzählungen bewusst weibliche Autorinnen und ihre Erzählformen entgegen setzen; nur um diese ebenso kritisch zu durchleuchten, mit Blick auf eine Zukunft, in der man die aktuelle Position eventuell wieder revidieren muss.

Die Erforschung von Texten, Kulturtechniken, historischen Ereignissen, politischen Systemen, soziologischen Zusammenhängen der Vergangenheit ist unabdingbar. Denn in ihnen wurzeln die Gegebenheiten, mit denen sich Politiker, aber auch Mitglieder unserer Gesellschaft, die täglich miteinander interagieren, befassen müssen. Die Komplexitäten der Gegenwart sind nur durch ein tieferes Verständnis ihrer Ursachen zu lösen – und auch dann nur in einem Prozess, der Lösungen als temporär und Entwicklungen als kontingent begreift .

Das ist es schließlich, was die Wissenschaft auch selbst zu ihrem Auszug aus dem Elfenbeinturm beitragen muss: Sie muss ihre Rolle als Mäckelliese, beleidigte Leberwurst und ständiger Hinterfrager verlassen und Stellung beziehen. Sie muss Schnittstellen suchen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Sie sollte bei den Studierenden beginnen, indem sie ihnen vermittelt, dass nicht alles Wissen relativ ist, sondern wissenschaftliche Aussagen eine begründete Stellungnahme erfordern. Vor allem aber muss sie sich von der Vorstellung verabschieden, dass der Elfenbeinturm eine erstrebenswerte Position ist, in der man immer auf der richtigen Seite stehen kann, ohne etwas zu riskieren. Sprechakte schaffen Realitäten und können diese wieder abschaffen. Natürlich nur, wenn sie gehört werden. Das sollten Geisteswissenschaftler eigentlich am besten wissen.

[1] Blackfacing geht auf amerikanische Minstrel-Shows des 19.Jahrhunderts zurück, in denen weiße Entertainer sich das Gesicht schwarz schminkten, um eine rassistische stereotypisierte Figur eines Afroamerikaners zur Belustigung des Publikums zu verkörpern. Heutzutage wird die Praxis des „Schwärzens“ eines weißen Gesichts oder Körpers alllgemein als Blackfacing bezeichnet und ist auf der Bühne wegen seiner rassistischen Ursprünge verpönt.

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