Unter den verschärften Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie leiden alle Lebensbereiche. Kontaktsperren und Veranstaltungsverbote gehen auch an die wirtschaftliche Substanz von Kulturschaffenden und drängen Fragen nach alternativen Perspektiven auf. Ein Blick auf Musikfestivals in Deutschland und Europa und auf drei Ansatzpunkte für eine ökologische Transformation.

Foto von Adrian Franco
1. Schock, Verbote und Reaktion
Ob auf oder neben Tirols Skipisten, in den Straßen von Rio de Janeiro und New Orleans oder im Rheinland: Die Karnevalsfreude wich jäh der schrecklichen Einsicht, dass das Virus in der ausgelassenen Menge einen günstigen Nährboden zur Verbreitung gefunden hatte. Menschliche Nähe schlug um in Bedrohung.
Der Schlag sitzt seitdem tief: Nicht nur bei den Erkrankten, ihren Angehörigen und den zuständigen Behörden. Der wirtschaftliche Schaden, der durch die verhängten Veranstaltungsverbote entsteht, wird von den Verbänden der deutschen Musikbranche vorläufig auf rund 5,5 Milliarden EUR geschätzt.
Die Auswirkungen der Pandemie auf eine diversifizierte, international vernetzte und oft auf freischaffender Arbeit beruhenden Kulturlandschaft sind schwer einzuordnen. Ein Ende der strikten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie oder zumindest eine schnelle Wiederaufnahme des durchgetakteten Veranstaltungskalenders scheinen nicht in Sicht.
Trotz allem hat die Kreativszene schnell, digital und gemeinsam mit ihrem solidarischen Publikum auf die Ausnahmesituation reagiert: Sofern möglich, werden Kulturfestivals auf die zweite Jahreshälfte oder das kommende Jahr verschoben. Fans verzichten auf die Erstattung ihrer bereits erworbenen Konzertkarten oder finanzieren KünstlerInnen und Kulturinstitutionen direkt über Förderplattformen.
Das Internet bietet Räume für virtuelle Veranstaltungsformate, etwa für die in diesen Tagen prosperierenden Hauskonzerte via Live-Streaming: So präsentiert das Kooperationsprojekt #UnitedWeStream der Berliner Clubszene, in Zusammenarbeit mit dem französisch-deutschen Fernsehsender ARTE, regelmäßig Auftritte von KünstlerInnen aus geschlossenen Veranstaltungsräumen.
Ferner können staatliche Kredite und Soforthilfen abgerufen werden. Auch die GEMA hat einen Schutzschirm aufgespannt. Die Verbände der Musikbranche fordern darüber hinaus ein zusätzliches Finanzierungsprogramm mit einem Volumen von ingesamt 582 Millionen Euro sowie eine Gutschein-Regelung für bereits erworbene Eintrittskarten.
In diesen Momenten stehen der Schutz der Gesundheit und die ökonomische Stabilisierung an oberster Stelle. Gleichzeitig zeichnet sich eine globale wirtschaftliche Rezession ab und die Rückkehr zu alten Gewissheiten erscheint mehr als fraglich.
Inmitten eines solch komplexen Szenarios wird die Abwesenheit von Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum eklatant bewusst. Das gemeinschaftliche Erlebnis von Kultur findet nicht statt und wo überhaupt möglich, dominiert das Internet, als Medium der Wahl durch voneinander isolierte Individuen: So bekräftigte die Filmemacherin und Autorin Doris Dörrie in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk die gegenwärtige „Systemrelevanz“ von Filmen und Serien als sinnstiftende Autoritäten on demand.
Die Pandemie bringt den außerordentlichen Stellenwert von Kulturveranstaltungen in der Gesellschaft zu Tage und offenbart zugleich, wie fragil sich die Bedingungen für Kulturschaffende ohne offene Kulturstätten darbieten.
Für die ökologische Transformationsbewegung bedeutet der Stand der Dinge mehr denn je eine erneute Brisanz in bereits bekannten Abwägungsfragen: Was ist jetzt ökonomisch noch möglich, damit eine Welt nach der Krise auf ökologische Beine gestellt wird? Finden wir einen Weg, den Schaden von Kulturveranstaltungen für die Umwelt zu minimieren, ohne dabei die Säge an eine in Mitleid gezogene Kulturlandschaft zu legen und die Freiheit kultureller Entfaltung durch rigide Regulierung und Verzicht zu beschränken? Welche Rolle können Musikfestivals dabei spielen?
2. Der Stand nachhaltiger Musikfestivals vor der Pandemie
Unter ökologischen Aspekten betrachtet, konsumieren Musikfestivals Energie und Ressourcen, greifen in Landschaften ein, intervenieren in bestehende soziale und ökologische Lebenswelten und hinterlassen Abfälle: Jede Veranstaltung besitzt einen ökologischen Fußabdruck, an dem gearbeitet werden kann. So beziffert der aktuelle Bericht von Vision 2025, einem Zusammenschluss britischer Musikfestivals, die durchschnittliche CO2-Bilanz auf geschätzte 1,9 kg pro Person und Festivaltag.
Werden Musikfestivals in diesem Bild eingehender betrachtet, dann reichen die ersten Anstrengungen den ökologischen Fußabdruck von Veranstaltungen zu ermitteln und zu reduzieren in die frühen 2000er Jahre zurück.
Pioniere wie die Organisationen Julie’s Bicycle in Großbritannien, Green Music Initiative in Deutschland und auf europäischer sowie internationaler Ebene A Greener Festival und Green Operations Europe haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Nachhaltigkeitsdiskurs aus einer marginalen Position mittlerweile emanzipiert hat.
Heute gehören Kompost-Toiletten, Fahrrad-Diskos und ein strategisches Mobilitäts- und Ressourcenmanagement zum Repertoire nachhaltiger Festivals, etwa auf dem Melt! Festival. Seit dem Jahr 2012 besteht eine ISO-Norm für nachhaltige Veranstaltungen, was eine weitere Standardisierung sowie Transparenz und damit auch Vergleichbarkeit von Kennzahlen vorantreiben könnte.
Festivals können aber nicht nur ihre CO2-Bilanz verbessern: Das Fusion Festival in Mecklenburg-Vorpommern belegt eindrücklich, welche kreative Energie in Festivals freigesetzt wird. Hier wird Wissen getauscht und hier werden gängige Konsum- und Produktionsmuster hinterfragt. Kunst und Design werden gemeinsam mit anderen Menschen erlebt. Als rites des passages gehen Feste im besten Fall nicht spurlos an den Beteiligten vorbei, sondern ermöglichen eine Grenzerfahrung zwischen der Stabilität des Alltages und dem Möglichkeitsraum, der aus dem Ausnahmezustand des Festes entspringt.
Warum könnten Musikfestivals, die in der Tradition von Woodstock und Burning Man stehen, also nicht zu Experimentierfeldern für eine Erlebnisgesellschaft in der Klimakrise werden?
3. Mögliche Wege zurück in die Klimakrise
Vielleicht liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass das Virus Covid-19 den Ausnahmezustand zur Regel erhoben hat und nun auch am Stuhl des Festivals, als moderne und regulierte Institution des Außergewöhnlichen, sägt.
Doch ist es schwer vorstellbar, dass Festivals als fester Bestandteil einer bereits etablierten globalen Erlebnisgesellschaft und ihrer ökonomischen Praxis abdanken werden, gerade weil sie temporäre Erfahrungen in Kollektiven versprechen, von welchen die nun isolierten Individuen abgeschnitten wurden. Es liegt nahe, dass sich der Wunsch Bahn brechen könnte, verpasste Erlebnisse auf Festivals nachzuholen, sobald Veranstaltungsverbote wieder gelockert werden.
Vielmehr gilt es mit dem französischen Soziologen Bruno Latour anlässlich der Pandemie nach Ansatzpunkten für eine ökologische Transformation zu fragen: „Welche im Moment eingestellten Praktiken sollten im Licht der Klimakrise nicht wiederaufgenommen werden?“
Kultur bewerten
Die Pandemie verschärft die ungelöste Frage nach der Vergütung für Kuturschaffende. Allem Anschein nach eignet sich der digitale Raum mit seinen teilweise freien Streaming-Diensten nicht dafür, eine ökonomisch relevante oder zumindest auf längere Hinsicht kalkulierbare Vergütung für den Konsum von Kultur zu garantieren.
Vor diesem Hintergrund fordern die Berufsverbände von Kulturschaffenden und VerantalterInnen sozialpolitische und steuerliche Sofortmaßnahmen. Strukturelle Veränderungen in der Kulturlandschaft angesichts der Pandemie werden dabei bislang noch nicht mit einer ökologischen Transformation in Verbindung gebracht.
Eine auf Nachhaltigkeit zielende Kulturpolitik sollte daher vermeiden, eine mögliche Durchsetzung ökologischer Standards ohne eine Transformation der bestehenden, ökonomisch prekären Arbeitsverhältnisse zu verfolgen, die das Leben von Kulturschaffenden erschweren.
Es werden Perspektiven benötigt, die in der Lage dazu sind, das Einkommen für Kulturschaffende sicherzustellen und zwar indem die ökologische Transformation von Veranstaltungen eingeleitet wird. Warum können Kulturveranstaltungen nicht ihren Stellenwert für Identitäten in modernen Gesellschaften gerade dafür nutzen, soziale und ökologische Sicherheiten miteinander zu verknüpfen?
Wachstumspfade überprüfen
Nicht nur in der Kulturbranche stellt sich die bislang dominante ökonomische Wachstumsfrage neu. Für VerantalterInnen und das Publikum gilt es gleichermaßen selbstkritisch abzuwägen: Ist es in der Klimakrise noch vertretbar, sogenannte Megaevents auszurichten oder zu besuchen und dafür den entsprechenden Aufwand an Infrastrukturen und den Verbrauch an Ressourcen in Kauf zu nehmen?
Der aktuelle Entzug von Musikfestivals kann einen Reflexionsraum eröffnen, um über die Relevanz von Musikfestivals als Erlebnis aus individueller Betrachtung, aber auch auf Ebene einer politischen Ökonomie nachzudenken.
Europa bietet ein engmaschiges Netzwerk an Kulturveranstaltungen, das Alternativen für einen achtsamen Tourismus ohne weite Anreisen und in Kooperation mit regionalen AkteurInnen einer ökologischen Transformation eröffnen kann, etwa mit Blick auf die weiteren Dienstleistungen wie Gastronomie, mobile Hygieneeinrichtungen und Kunstgewerbe, die auf Musikfestivals vertreten sind.
Öffentliche Infrastrukturen schaffen
Schließlich eröffnen sich im Zuge der öffentlichen Kreditprogramme und Soforthilfen neue Spielräume für die europäische Gemeinschaft, den Staat und für Kommunen, um ökologische Standards bei Kulturveranstaltungen einzufordern und im selben Zuge zu fördern.
Schon vor der Krise war die öffentliche Hand einer der wichtigsten ökonomischen Akteure in der Kulturlandschaft: Diese Verantwortung wird nicht kleiner werden nach Überwindung der Pandemie. Es gilt die öffentliche Einflussnahme vorsichtig, diskursiv und in jedem Fall unter demokratischer Kontrolle dafür zu verwenden, die gegenwärtigen Infrastrukturen von Kulturinstitutionen auf den Prüfstand zu stellen und zu fragen, an welcher Stelle praktikable Lösungen im Sinne einer Verringerung des Energie- und Ressourcenverbrauches, hier sei etwa die Müllvermeidung genannt, reguliert und logistisch wie finanziell unterstützt werden können.
Doch mit Vorgaben und Regulierungen ist wohl nur ein Schritt getan: Es ist eine öffentlich finanzierte Infrastruktur notwendig, die den Wissenstransfer und den Diskurs zwischen WissenschaftlerInnen, Behörden, VeranstalterInnen und Kulturschaffenden sowie weiteren privaten FörderInnen voranbringt.
Eine entsprechende Forderung äußerten MuseumsvertreterInnen bereits in einem Offenen Brief an Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Herbst 2019. Pioniere wie der Green Club Index haben Standards, sowohl bei der Energieeinsparung, als auch in der Beratung von Musikveranstaltungen erarbeitet, an die in diesem Prozess angeknüpft werden kann.
Auf europäischer Ebene scheint bislang noch keine Rolle für Kulturschaffende innerhalb eines European Green Deal konzipiert worden zu sein.
4. Transformation und Trauma
Solange die Debatte um nachhaltige Lebensstile sensibel für die vielschichtigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Implikationen geführt wird, können Kulturveranstaltungen wie das Musikfestival weiterhin Orte der Zusammenkunft und des Austausches sein – Anlässe zur Transformation unter Wahrung individueller Freiheitsrechte und zur Beförderung des demokratischen Diskurses in einem Kollektiv, das sich komplexen strukturellen Gefahren ausgesetzt sieht.
Denn in der globalen Klimakrise gilt auch: Die Zelte eines Musikfestivals können sich in das Material für Flüchtlingslager verwandeln. Zu Orten der Not, des Traumas, der Überwachung und der Disziplinierung durch Gewalt. Doch selbst in solch dunklen Momenten sorgen mutige Menschen dafür, dass sich kulturelle Praktiken entgegen die Bedrängnis von Leib und Leben stellen. Inmitten prekärer Umstände, notfalls auch klandestin, ohne jegliche Akzeptanz und Unterstützung durch ein gesellschaftliches System der Förderung, streben Menschen nach kulturellem Ausdruck.
Ein Blick auf die bereits vergangenen und auf die zahlreichen bestehenden, autoritären Gemeinwesen dieser Welt, lehrt die Unüberwindbarkeit kulturellen Ausdrucks, trotz aller Versuche der Vereinnahmung, Kontrolle, Marginalisierung und Vernichtung ihrer AkteurInnen.
Kultur als Erlebnis „überlebt“ im tragischen Wortsinn. Es bleibt die Hoffnung, dass eine demokratische europäische Kulturlandschaft im Ausnahmezustand weder Pandemien noch die Unwägbarkeiten einer Klimakrise zu vergleichbaren, schmerzlichen Einsichten zwingen werden.
Weiterführende Literatur:
Liana Girogi; Monical Sassatelli, Gerard Delanty (Hrsg.): Festivals and the Cultural Public Sphere. New York, 2011.
Christof Graf: Kulturmarketing. Open Air und Populäre Musik. Wiesbaden, 1995.
Temple Hauptfleisch; Henri Schoenmakers et. al. (Hrsg.): Festivalising! Theatrical Events, Politics and Culture. Amsterdam, 2007.
Peter Hinrichs: Wacken. Ein Dorf wird Metropole und Marke. Göttingen, 2011.
Robert Kozinets: Can Consumers Escape the Market? Emancipatory Illuminations from Burning Man. In: Journal of Consumer Research 29 (2002), S. 20-38.
David Picard; Mike Robinson (Hrsg.): Festivals, Tourism and Social Change. Remaking Worlds. Clevedon, 2006.
Jon Sundbo; Flemming Sorensen (Hrg.): Handbook on the Experience Economy. Cheltenham, 2013.