
Am Samstag vor der Europawahl protestierten Französinnen und Franzosen auf den Tag genau seit sechs Monaten jeden Samstag in gelben Warnwesten, in Paris, aber auch in anderen französischen Großstädten, auf Raststätten, und an Kreisverkehren. Die Bewegung trägt den Namen „les Gilets jaunes“, in Deutschland treu in „Gelbwesten“ übersetzt; auch wenn es eigentlich – wörtlich und übertragen – „Warnwesten“ heißen müsste.
Das Symbol hat sich längst verselbstständigt und sorgt auch auf Demonstrationen in Deutschland für Bezugswirrwarr [2]. Die Protestierenden warnen nach wie vor jeden Samstag – ja, wen und wovor eigentlich?
Ohne Richtung, ohne Ziel?
Pünktlich zum halbjährlichen Jubiläum hat der Präsident der französischen Republik Emmanuel Macron ein beschwörendes „Jetzt ist es aber mal gut“ ausgesprochen: Die Bewegung habe kein „débouché politique“[3], keinen politischen Ausgang, Ausweg, Ergebnis, Erfolg – im Deutschen würde man, im Rückgriff auf ein anderes Bildfeld, wohl „Perspektive“ sagen. Macrons Feststellung, die eher als Zurechtweisung daherkommt, ist in sich schon widersprüchlich: Zum einen soll die Bewegung in der Sackgasse gelandet sein, weil ihr das Ziel fehlt. Oder ist es, wie der weitere Verlauf des Zitats zu suggerieren scheint, so, dass die Bewegung sehr wohl eine Richtung hatte, und ihre Daseinsberechtigung verloren hat, seitdem der Präsident auf die ursprünglichen Forderungen der Franzosen vermeintlich reagiert und sie ihr Ziel nun erreicht hat? Er habe den Franzosen diejenigen Antworten geliefert, die sie verlangten, sagte Macron im Rahmen eines Besuchs in Biarritz am 17. Mai. Nun heiße es: Wählen gehen, oder sich selbst zur Wahl stellen. In jedem Fall zurück in den geordneten Ablauf der repräsentativen Demokratie, denn Demokratie, so der Präsident, werde „nicht an einem Samstag Nachmittag gemacht.“
In der öffentlichen Wahrnehmung scheint die Bewegung der Gelbwesten insbesondere deswegen Aufsehen zu erregen, weil Ziele und Forderungen angeblich kaum zu erkennen sind. Bevor über die Ursprünge der Bewegung überhaupt gesprochen wird, ist das Urteil meist schnell gefällt: Die wissen ja gar nicht, was sie wollen. Richtungslosigkeit führt zu augenblicklicher Delegitimation jeglichen politischen Antriebs. Dass diese nun schon sechs Monate andauernde Ereigniskette sich einer Antwort auf diese Frage verweigert, ist kein Defekt an politischer Haltung, sondern verweist genau auf den Kern des Symptoms, das diese Bewegung darstellt.
Wie die Reise losging
Die Gelbwesten befinden sich also auf einer Bahn, deren Richtung ungewiss ist. Das besondere an ihr ist, dass die Beteiligten, die ohnehin aus sehr unterschiedlichen Richtungen zusammenkommen und auf unterschiedliche Weise „unterwegs“ sind, sich nicht einigen konnten und können, eine Ausfahrt aus der Protest-Autobahn zu wählen – ein Marsch durch das System der politischen Institutionen? Oder die Ausfahrt „Europawahlen“?
Wie auch? Es handelt sich um eine sehr heterogene Gruppe von Demonstranten, die seit dem 18. November letzten Jahres jeden Samstag vor allem in Paris, aber auch in anderen französischen Städten – Lyon, Marseille, Bordeaux und einigen mehr – zusammenkommen. Medienwirksam sind besonders die „Zerstörer“, die „casseurs“, die die Fensterscheiben von Geschäften einschlagen, Autos anzünden, zum Teil durch ihre illegalen Handlungen Teilnehmer der Demonstration und Unbeteiligte in Lebensgefahr bringen – so kürzlich am 16. März [4]. Manche kommen zum Teil von weither extra nach Paris ins Zentrum der Unruhe. Der Ursprung ist dezentraler, als man es von französischer Protestkultur gewohnt ist.
Die „Gilets jaunes“ entstanden aus der Initiative von Bürgerinnen und Bürgern, die sich zunächst dagegen wehrten, dass die Geschwindigkeit auf Landstraßen auf 80km/h reduziert werden und dabei die Benzinpreise erhöht werden sollten. Daher auch das Wahrzeichen der Bewegung: die gelben Warnwesten, welche jeder und jede Protestierende im Kofferraum hatte, und die im Lauf der vergangenen Monate metaphorische Bedeutung entfalten konnten. Doch die Bewegung hat sich längst von ihrem Auslöser entfernt. Die Forderungen, die mit der Bewegung der Gelbwesten zusammenhängen, sind seitdem in der Tat ebenso divers wie die Demonstranten selbst. Sei es die Aufhebung der 80km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen, der Protest gegen die Erhöhung der Benzinpreise, oder die Forderung eines „Référendum d’initiative citoyenne“, eines Referendums, das die Möglichkeit direkter Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen schafft. Wie ein Mantra zieht sich die Forderung nach mehr „pouvoir d’achat“, nach mehr Kaufkraft, durch alle Äußerungen.
Ein neuartiger Straßenkampf im Heimatland des Streiks
Die Reaktionen darauf sind auch in Frankreich sehr gemischt; doch Protest an sich ist für Franzosen kein Ausnahmezustand. Französische Wähler haben ein grundlegend widersprüchliches Verhältnis zu den von ihnen gewählten Vertretern: Häufig ergibt sich im äußerst personalisiert geführten Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen eine Art Idealisierung des oder der jeweils bevorzugten Kandidatin oder Kandidaten. Das steht in Verbindung mit einem starken Narrativ von Erneuerung, in jedem Fall einer Fokussierung auf persönliche und biographische Attribute des Kandidaten, die die Wahrnehmung der politischen Agenda stark beeinflussen. Ist ein Präsident oder eine Präsidentin gewählt, scheint sich – so die Wahrnehmung aus der Ferne – der Wind schnell zu drehen. Meist schon nach der ersten Gesetzesdebatte nimmt der französische Bürger sein Recht wahr, zu protestieren und seine Enttäuschung über den zuvor vehement verteidigten Kandidaten kund zu tun. Die zwei Herzen des französischen Selbstverständnisses schlagen in seiner Brust: Bezieht sich Frankreich als Kulturnation meist auf die Zeit der absoluten Monarchie des Sonnenkönigs zurück, so sind seine politischen Institutionen zumindest nach außen hin in den republikanischen Idealen der französischen Revolution verwurzelt. Als würde Frankreich bei jeder Präsidentschaftswahl rituell den revolutionären Bruch nachspielen, hängen die Französinnen und Franzosen ihre Hoffnungen an eine große Persönlichkeit, um sie anschließend im Lauf der Amtszeit sorgfältig zu dekonstruieren. In Frankreich schwingt in jeder Demonstration ein Hauch des Sturms auf die Bastille mit.
Doch sogar diese geübte Protestkultur hat die Bewegung der „Gilets jaunes“ eher kalt erwischt. Der Gewerkschaftsbund CGT, ein einflussreicher Akteur in legislativen und anderen politischen Prozessen in Frankreich, hat Wochen gebraucht, um sich gegenüber der Bewegung zu positionieren. Die Gelbwesten machen den Gewerkschaften in ihrem Kernbereich, der Straße, Konkurrenz[5].
Soweit, so widersprüchlich. Doch hier enden die Widersprüche nicht. Schon die Wahl der Orte, an denen die Pariser Demonstrationen stattfinden, deuten auf die Neuheit des Phänomens hin: Anstatt den traditionellen Bezugsort Place de la République zu wählen, trafen sich die Gelbwesten – vor den in den letzten Wochen ausgesprochenen Verboten – auf dem bekanntesten Kreisverkehr in Paris am Arc de triomphe. Sie zogen jeden Samstag auf den Champs-Elysées Richtung Place de la Concorde (übrigens auch ein Kreisverkehr), und sorgten für einen deutlich spürbaren Rückgang im Umsatz der Luxusgeschäfte, die vor allem von Touristen und wohlhabenden Parisern besucht werden. Dass im Umfeld der Champs-Elysées einige der teuersten Wohngegenden in Paris liegen, verleiht dem Unbehagen der Demonstrierenden an der Kaufkraftverteilung in deren Augen umso größere Legitimität.
Richtungslos symptomatisch
Ob dieser komplexen und widersprüchlichen Gemengelage ist die Frage nach der Intention der Bewegung vielleicht weniger interessant als diejenige nach ihrem Symptomcharakter. Konstitutiv für die Bewegung ist, dass sie das Prinzip von Repräsentation ablehnt. Frühe Versuche, einen Sprecher zu bestimmen, der mit Premierminister Édouard Philippe oder gar mit Emmanuel Macron direkt kommunizieren könnte, scheiterten. Die Bemühungen verschiedener Teilnehmerinnen und Teilnehmer, eine Kandidatenliste für die Europawahl zusammenzustellen, wie diejenigen der Krankenschwester Ingrid Levavasseur – mittlerweile ein Star der Bewegung, an dessen Umstrittenheit sich die internen Konfliktlinien offenbaren – [6], wurden zum Teil mit aggressiven Reaktionen, sogar wüsten Beschimpfungen anderer Protestierender gekontert. Dass die Gelbwesten mit noch zwei weiteren neben Levavasseurs Liste für die Europawahl ins Rennen gingen, illustriert die naturgemäße Aufsplitterung der Bewegung. Die Listen selbst zeigen die in sich paradoxe Weigerung, damit an den überkommenen Repräsentationswegen teilzunehmen: Diejenige von Patrick Cribouw, die „Union jaune“, bezeichnet dieser beispielsweise als „ungewerkschaftlich und unpolitisch“.[7]
Die konsequente Weigerung, sich nach den verfügbaren Strukturen der repräsentativen Demokratie zu organisieren, sagt Einiges aus über eine Verdrossenheit, die sich mittlerweile nicht mehr an inhaltlichen Differenzen entzündet, sondern ein Vertrauen in ein System betrifft, zu dem es eben (noch) keine denkbare oder gedachte Alternative gibt. Insbesondere, und das wird an einem zentralistisch organisierten Land wie Frankreich noch viel deutlicher als in Deutschland, handelt es sich auch um eine Weigerung der auch selbstverständlich so genannten „Provinz“, sich von der Hauptstadt repräsentieren zu lassen, die den größten Teil der politischen und kulturellen Macht in sich konzentriert und dabei die Bedürfnisse der übrigen Landesteile aus dem Blick verliert. Das wird umgekehrt darin deutlich, dass die Gelbwesten-Bewegung selbst zu einer Art pars pro toto eines schon länger andauernden Unvernehmens in der französischen Gesellschaft wird, wie aus der Dankesrede des Filmemachers Ladj Ly bei der Verleihung des Preises der Jury bei der Preisverleihung in Cannes am vergangenen Samstag hervorgeht. Sein Film Les Misérables, dessen Titel auf eines der kanonischen Werke der französischen Literatur anspielt, dreht sich um einen schief gegangenen Polizeieinsatz in einem Vorort von Paris. In seinen Dankesworten sagt Ly unter Anderem dem Nachrichtensender france info, dass die Bewohner dieser Vororte schon von Geburt an „Gilets jaunes“ seien – und deshalb die Proteste begrüßten, die nun endlich ihrem Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Handlungsmacht Ausdruck verliehen.
Offene Dramaturgie
Gerade in ihrer Richtungslosigkeit, könnte man also schließen, sind die Gelbwesten revolutionär: Weil sie durch ihre Programm- und Richtungslosigkeit zum Einen die Protesttradition Frankreichs subvertieren; zum Anderen zu wenig Angriffsfläche für die institutionellen Integrations- bzw. Neutralisierungsmechanismen bietet. (Zu diesen mehr in Folge 2!). Die Zirkularität, die dem Kreisverkehr eigen ist, verträgt sich mit dem Ideal eines linearen Fortschritts durch stete Kompromissbildung eben schlecht (vgl. dazu unseren früheren Beitrag). Präsident Macron will seinen Beitrag des Zuhörens und Reagierens schon abgeleistet haben – und genau hier wird deutlich, wie rein theatral diese Reaktion auf eine Bewegung ist, die jeden Demonstrations-Samstag selbst als einen „Akt“ beschreibt. In der Dramaturgie der Regierungsorgane ist damit der Abschluss der Tragödie gefunden; doch die Gelbwesten entscheiden sich sozusagen für eine offene Dramaturgie – mit all der Verwirrung, Uneindeutigkeit, und den ästhetisch weniger gelungenen Nebeneffekten, die damit einhergehen.
