
Man hört und liest es überall: Die Leute könnten nicht mehr miteinander reden, die Gesellschaft drifte immer weiter auseinander, der Zusammenhalt gehe verloren. Doch immerhin besitzt Deutschland eine Zielscheibe der Verachtung, auf die sich scheinbar fast jeder, ob links oder rechts, jung oder alt, einigen kann: Die SPD!
Wenn man in bunt zusammengewürfelter Runde beisammensitzt, dann kann ein despektierlicher Kommentar über die SPD schon mal als Eisbrecher dienen. Ein selbstbewusstes „Die SPD kann man ja nun wirklich nicht mehr ernst nehmen“ oder ein kumpelhaftes „Die SPD weiß ja auch nicht, was sie eigentlich will“ kommt eigentlich immer gut an. Auch die Diskreditierung des Spitzenpersonals geht locker von der Zunge: „Die Nahles ist halt so eine typische Politikerin“, „Der Scholz ist nur die männliche Version von Merkel“, „Der Steinmeier war wieder mal blass“ oder „Der Steinbrück ist ein echter Kotzbrocken“ wären da bekannte Beispiele.
Im eher konservativ-bürgerlichen Milieu kann man noch Sätze wie „Die SPD hat auch kein Konzept außer dieser ‚sozialen Gerechtigkeit‘“ oder, leicht aufgebracht, „Die SPD hat es mal wieder auf die Leistungsträger abgesehen“ hinzufügen – wie man natürlich auch in FAZ oder Welt nachlesen kann. Für das linksliberale städtische Milieu tut die SPD natürlich nicht genug für den Klimaschutz, hier ist der zum Großindustriellen stilisierte Sigmar Gabriel ein perfektes Feindbild. Im klassischen linken Lager ist die SPD traditionell, also schon seit 1919 und nicht erst seit Hartz IV, eine Partei, die die Arbeiterklasse und sozialistischen Werte verrate. In rechtsnationalen Kreisen ist es der Verrat an der Nation, der ebenfalls schon seit Ende des Ersten Weltkriegs ein Hauptmerkmal der volksverachtenden Sozialdemokraten sei und natürlich zuletzt in der Flüchtlingskrise wieder prominent zum Vorschein kam.
Ja, so ziemlich jeder kann sich wunderbar über die SPD ärgern, und, von den politischen Rändern mal abgesehen, sind einige Vorwürfe an die Partei ja durchaus begründbar und diskutierbar. Nur gilt das nicht für jede politische Partei? Warum ist es so naheliegend und einfach für jedermann, immer und immer wieder auf die alte Dame unter den Parteien einzutreten?
Die allgemeine Krise der europäischen Sozialdemokratie
Zunächst einmal muss man feststellen, dass die Sozialdemokratie seit ca. 10 bis 15 Jahren in einer allgemeinen Krise steckt, die sich auf ganz Europa ausdehnt. Bis auf wenige Ausnahmen, z.B. auf der iberischen Halbinsel oder in Skandinavien, stellt eine sozialdemokratische Partei in nahezu keinem Land die stärkste Kraft, in Frankreich oder den Niederlanden ist die jeweilige Partei quasi verschwunden. Die Gründe für diesen Niedergang beschrieb einst eben jener „Kotzbrocken“ Peer Steinbrück sehr treffend: der Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übte ungeheuren Druck auf die ökonomisch-politische Debatte in den Industrieländern aus und führte zur Anpassung an die Idee des globalen Wettbewerbs. Dieser allerdings wurde nicht von der Politik, sondern der Privatwirtschaft angeführt, die in atemberaubendem Tempo lernte global zu handeln und Handel zu treiben. So ergab sich für die Sozialdemokratie, die gerade zu dieser Zeit in vielen großen Ländern an der Regierung war, eine toxische Gemengelage: einerseits drängte jeder „Wirtschaftsexperte“ auf Deregulierung der Finanzindustrie, Verringerung von Unternehmenssteuern und Abbau der Sozialleistungen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Andererseits führte genau dies dazu, dass sich globales privatwirtschaftliches Handeln nochmal stärker beschleunigte, während die Politik im Schneckentempo demokratischer Prozesse hintertrottete und die Kontrolle verlor. Dieser teils systemisch bedingte, teils selbst verschuldete politische Kontrollverlust — in Deutschland durch die Agenda 2010 versinnbildlicht — brachte einen immensen Vertrauensverlust seitens der Wahlbevölkerung mit sich, der sich heute immer stärker bemerkbar macht.
Als zweiten wichtigen Grund für den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie kann man die Umstrukturierung der Arbeitswelt anführen. Die klassische industrielle Arbeiterschaft existiert kaum noch, da sie durch neue Technologien ersetzt worden ist und viel Arbeitskraft in den Dienstleistungssektor abgewandert ist. Mit dem Verlust der kollektiven Arbeitserfahrung und der Schwächung der Gewerkschaften ist der sozialdemokratischen Idee das Fundament weggebrochen. Der alte Verbund von progressiven Intellektuellen und stolzer, gemeinschaftlich orientierter Arbeiterklasse scheint aufgelöst. Um typische Fragen aus Presse und privaten Diskussionen aufzunehmen: wozu braucht man also noch eine SPD? Wofür kann und soll sie stehen?
Die Antwort kann nur wohl nur lauten: europäische Integration und Solidarität, Stärkung globaler Institutionen! Die Europäische Gemeinschaft ist wirtschaftlich stark genug, um Regulierungen durchzusetzen, ohne dabei drastische Konsequenzen durch den globalen Kapitalismus fürchten zu müssen. Das kann man jetzt schon beim Vorgehen gegen Tech-Giganten wie Google und Facebook sehen, bei einer endlich in die Wege geleiteten (durch den Brexit ermöglichten) Finanztransaktionssteuer oder auch den neuen Vorgaben zur Emissionsreduktion von Treibhausgasen. Und tatsächlich scheinen die Genossen dies immer stärker zu erkennen: Die SPD hat in den vergangenen Jahren vermehrt Vorschläge wie den eines europäischen Mindestlohns im Einklang mit einer enger abgestimmten Fiskalpolitik eingebracht. Solche Vorhaben könnten die Solidarität zwischen den europäischen Ländern endlich stärker betonen, als das zum Beispiel durch den bisher zu beobachtenden Steuersenkungswettbewerb passiert ist.
Zweierlei Maß bei der Beurteilung von Parteien
Europäische Integration und Solidarität hatte Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat zu seinem Hauptthema gemacht, und startete interessanterweise mit Werten über 30 % in die Umfragen. Die Tatsache, dass seine Spin Doctors ihm deutschlandspezifische Themen gaben, mit denen er eigentlich nichts am Hut hatte, führte wiederum zum typischen Authentizitätsverlust. Dies wurde allerdings auch angeheizt durch die inzwischen klassischen äußerst unbalancierten Reaktionen der deutschen Medienlandschaft auf SPD-Kanzlerkandidaten; sehr zügig wurde Schulz von vielen Seiten als monothematisch degradiert und mehr von ihm gefordert als „nur Europa“ (siehe zum Beispiel „Kann Martin Schulz überhaupt deutsche Politik?“ [1]). Auch das Kanzlerduell geriet zur journalistischen Peinlichkeit, da hier Dieselfahrverbote und Flüchtlingsströme die Hauptaufmerksamkeit erhielten und eine wirkliche Debatte über europäische Politik vermieden wurde.
Es scheint so, als sei die deutsche Gesellschaft nicht bereit für eine wirkliche europäische Öffnung. Man sieht sich gerne als gute Europäer, aber wenn Souveränität abgegeben werden soll und wirklicher Einsatz für die europäische Sache gefordert ist, erlischt die Leidenschaft oft sehr schnell (im Übrigen ähnlich wie beim Klimaschutz). Der letzte Bundestagswahlkampf und die damit einhergehenden Debatten ließen leider keinen anderen Schluss zu, als dass es sich die Mehrheit der Deutschen am liebsten innerhalb der eigenen Grenzen gemütlich machen will. Darüber hinaus spielt man gerne weltoffen, ohne wirkliches Interesse zu zeigen. Für genau diese Haltung war und ist Angela Merkel die perfekte Kanzlerin und wurde seit Amtsantritt von den meisten deutschen Leitmedien hofiert.
Es ist ein traditionelles Phänomen, dass bei Sozialdemokraten andere Standards angelegt werden als beispielsweise bei Konservativen. Man erinnere sich daran, für wie skandalös es stets erachtet wurde, wenn der alte Salonsozialist Oskar Lafontaine mal wieder einen guten Rotwein trank. „Der Sozi will der hart arbeitenden Bevölkerung alles wegnehmen, aber selbst genießt er das Leben in vollen Zügen“, lautet ein typischer Gedankengang. Wirklich unverschämt! Dann doch lieber ehrlich sein und zum Glas Rotwein die Kürzung von Sozialleistungen beschließen! Ist der Grund für solche Reaktionen womöglich, dass durch eine sozialdemokratische Gerechtigkeitsidee die eigene moralische Leere offen gelegt wird und man den Sozi dieser ebenso überführen will? Die Doppelmoral einer angeblich christlichen Partei, Menschen in Kriegsgebiete abzuschieben (auch mal mit einem Witz zum eigenen Geburtstag garniert), ist da jedenfalls deutlich akzeptierter. Letztens offenbarte sich diese Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung bei der Bewertung des Parteinachwuchses: Die bodenlosen verbalen Entgleisungen des neuen JU-Vorsitzenden Tilman Kuban gegenüber Minderheiten und politischen Gegnern wie Umweltaktivisten [2] verhallten sehr schnell und ohne große Beachtung. Nach dem Motto: „Die jungen Konservativen sind halt wild und schießen gerne mal über das Ziel hinaus!“ Kevin Kühnerts Vorstellungen zu Kollektivierung und Enteignung allerdings geisterten tagelang als Bedrohung der BRD durch die Medien, und Kühnert musste sich mehrfach als nutzloser Studienabbrecher beschimpfen lassen. Und egal, was man von seinen Aussagen hält: Im Gegensatz zu seinem konservativen Pendant leistete er immerhin einen inhaltlichen Debattenbeitrag.
Kompromisse bedeuten nicht Profillosigkeit
Von linker Seite wird der SPD ständig vorgeworfen, kein klares Profil zu zeigen und in Koalitionsverhandlungen einzuknicken. Dabei werden die Errungenschaften gerne ignoriert und vor allem die Versäumnisse betont. Allerdings gebietet es eben die politische Realität, dass die SPD sowohl in der Partei als auch in Koalitionen immer wieder Kompromisse finden muss. Und ist das denn nur schlecht? Ist das Ringen um Konsens nicht eigentlich das Hauptkennzeichen von Demokratie? Die SPD ist die älteste Partei Deutschlands, die auch in den dunkelsten Zeiten stets für Demokratie eingetreten ist. Könnte die Kritik an der SPD zum Teil auch Zeichen einer gewissen Verachtung für demokratischen Konsens sein? Wenn man nur ein bestimmtes Interesse vertritt, ist es äußerst leicht, diejenigen zu kritisieren, die verschiedene Standpunkte zu einer demokratischen Entscheidung zusammenführen müssen. Von der Union scheint keinerlei wegweisende Politikentscheidung, geschweige denn Vision, erwartet zu werden, sonst wäre sie für ihre Taten-und Planlosigkeit vom Wähler längst abgestraft worden. Die Grünen sind zurecht im Aufwind, da sie natürlich mit Umweltschutz ein klares Hauptthema haben, das offensichtlich absolut zentral für uns alle ist. Aber auch sie müssen in ihren Landesregierungen, oftmals mit der CDU wie einst in Hamburg und jetzt in Hessen, Kompromisse eingehen, die ihnen auf Bundesebene auch mal schaden können.
An der SPD ist sicher viel zu bemängeln (wie an jeder Partei), aber ihre Sozialpolitik (siehe Mindestlohn, Grundsicherung usw.), Europa- und Außenpolitik (klares Eintreten für gemeinsame europäische Sozialpolitik, besonderer Einsatz für Frauen-und Minderheitenrechte sowie Abrüstung im UN-Sicherheitsrat, bessere Kontrolle von Rüstungsexporten wie nach Saudi-Arabien) und auch Umweltpolitik (Vorschlag einer CO2-Steuer, Erneuerbare-Energien-Gesetz unter Rot-Grün) sind deutlich besser als ihr Ruf. Insbesondere lässt sich die allgemein verbreitete extreme Anti-Haltung in keiner Weise rechtfertigen. Es scheint manchmal so, als sei das Ablästern über die SPD schon eine Art gemeinschaftserzeugende Erfahrung, die in ihrer Struktur eigentlich schon wieder unpolitisch ist. Der „selbstverschuldete Niedergang der SPD“ dient zur Vergewisserung eines Gesprächskonsens in verschiedensten Situationen, ähnlich wie das Versagen der Nationalmannschaft, die unerträgliche Sommerhitze oder die schlechten Ausgehmöglichkeiten in München. Diese Haltung ist zwar einerseits erklärbar, aber eben doch in dieser Form einseitig, ungerechtfertigt und auch gefährlich. Denn der Verlust des sozialen Zusammenhalts ist neben dem Klimawandel eine der Hauptbedrohungen unserer Gesellschaft. Und die Sozialdemokratie versucht zumindest, Antworten — immer mehr auch im europäischen Rahmen — zu finden. Falls das den Leuten nicht reicht und sie nicht überzeugt sind, können sie sich ja selbst engagieren, ob in der SPD, einer anderen Partei oder auf eine ganz andere Art und Weise. Rein instinktive Ablehnung als politische Kritik zu tarnen bringt definitiv niemanden weiter!
Bild: Wikimedia Commons
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article159727260/Kann-Martin-Schulz-ueberhaupt-deutsche-Politik.html
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/tilman-kuban-junge-union-vorsitzender-1.4371582